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 04.Tag: Kältewelle am Iseran

Datum Km Σ Km Hm Σ Hm Übernachtung
27.07.1998 79 251 1.930 5.633 Hotel Les Marmottes

 

Montag, der 27.07.98. Aufgrund des Regens frühstücken wir im Zelt. Das Zelt muss in leichtem Nieselregen abgebaut werden. Das gleiche gilt für das Beladen der Fahrräder. Der Abzweig zum Ort St. Foy-Tarentaise liegt etwas tiefer als der Campingplatz. Die D902 entlang fahren wir langsam zum Lac du Chevril. Das Verkehrsaufkommen ist enorm hoch. Wir vermuten, dass viele Pkw zu der am heutigen Tage über den Galibier führende Tour de France-Etappe fahren. Ob sie die Profiradfahrer noch zu sehen bekommen, ist fraglich. Momentan jedenfalls stehen alle in einem km langen Stau. Wir fahren ständig links an Pkw-Kolonnen vorbei. Autos scheinen wohl doch nicht immer die optimalen Verkehrs- mittel zu sein.

Wie wir später erfahren, verliert Jan Ullrich genau an diesem Tage am Galibier entscheidende Minuten auf Marco Pantani. Schade, der uns in Reiseführern so beschriebene tolle Ausblick auf den 3779 m hohen Monte Pourri bleibt uns verwehrt. Der Lac du Chevril liegt im Dunst, an der Staumauer eine Nebelfront. Vor der Staumauer sehen wir keine 50 m weit. Direkt dahinter bricht die Nebelwand und gibt eine weiten Blick auf den See frei. Ein paar Kilometer hinter dem See erreichen wir in 1840 m Höhe Val d´Isere. Für Skifahrer im Winter vielleicht interessant, für Radfahrer im Sommer mit Sicherheit jedoch nicht. Die Retorten-Skiorte scheinen alle gleich auszusehen. Wohnburg neben Wohnburg, im Sommer unbewohnt, gespenstig, wenig ursprüngliche Atmosphäre, wie man sie eigentlich von anderen Orten mit altem Ortskern kennt und an jedem nur zur Verfügung stehenden Hang ein Skilift. Wie kann man die Natur nur so vergewaltigen. Angeblich soll Val d´Isere aus einem Bergdorf entstanden sein. Kaum zu glauben, davon ist nichts mehr zu sehen. Weil die feuchte Kälte durch unsere Kleidung kriecht, wärmen wir uns in einem Cafe auf und trinken einen heißen Kakao bzw. Cappuchino.

Links in einer Talschneise sehen wir bereits den unteren Teil des Anstiegs zum Col d´Iseran, dem zweithöchsten Alpenpass, 2770 m hoch. Die Straße überquert in einer Talschleife über die Pont St. Charles die Isere, um dann unvermittelt anzusteigen. An der Brücke wird der Regen kräftiger, so dass wir unsere Regenhosen und Schuhüberzieher überstreifen. Wir ahnen noch nicht, welche Strapazen uns noch bevorstehen. Nach 3-4 km hat man einen herrlichen Rückblick auf das im Tal gelegene Val d´Isere. Wie toll muss die Aussicht auf die umliegenden Berge und Gletscher erst bei Sonnenschein und freier Sicht sein.

Der Regen wird immer kräftiger und der kalte Wind nimmt weiterhin zu. Kilometer um Kilometer kämpfen wir uns den Pass hinauf. Von Unterhaltung keine Spur mehr. Jeder von uns ist nur noch mit sich selbst beschäftigt. In den ständig treibenden Regenwolken verlieren wir uns, teilweise sehen wir uns nicht mehr. Mir wird sofort klar. Anhalten dürfen wir nicht mehr. Der Körper würde sofort radikal auskühlen, an die Folgen gar nicht zu denken. So arbeitet sich jeder, auf sich allein gestellt, die letzten Kilometer den Pass hinauf. Als ich oben ankomme, schlottere ich schon kurz nach der Ankunft fürchterlich. Die Finger sind steif gefroren. Der Regen sticht aufgrund der Eisanteile wie Nadelstiche. Zu klaren Gedanken bin ich in dem Moment nicht mehr fähig. Ich  stürze in das auf der Passhöhe gelegene Restaurationsgebäude in der Hoffnung , dass mir dort wärmer wird. Kurz darauf erscheinen auch Martin und Burkhard, ebenfalls vollkommen fertig. Unsere Körper wollen und wollen nicht wärmer werden. Nach ca. 1/2 Stunde  entscheide ich mich für die Abfahrt, brauche dringendst eine Toilette, die es angeblich oben auf der Passhöhe auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht gibt. Wir machen noch schnell gegenseitig Fotos von uns. Dann habe ich nur noch einen Gedanken, hinab nach Bonneval sur Arc in tiefer gelegene Regionen.

Die Abfahrt wird noch schlimmer, die Finger werden immer steifer, ich kann kaum mehr Bremsen und friere noch mehr. Gefühlsmäßig will die Abfahrt einfach nicht enden. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so gefroren. Ich stürze in die direkt am Abfahrtsende gelegene Touristikinformation. Nach 15 Minuten ist mir immer noch nicht wärmer. Eine Möglichkeit sich ungestört umzuziehen besteht in dem stark frequentierten Raum nicht. Die Touristikinformation verlassen möchte ich auch nicht, ich habe Angst, Burkhard und Martin könnten an mir vorbeifahren, ohne mich wahrzunehmen. Kurz darauf erscheinen die Beiden. In der Nähe finden wir eine Pizerria. Dort wechseln wir erst einmal auf der Toilette alle unsere klatschnasse Kleidung. Erst nach einer halben Stunde geht es uns langsam besser.

Die Strecke von Bonneval sur Arc bis Lanslebourg ist relativ flach. Eine kleinere Steigung von Bessans aus über den Col de Madeleine ( 70 Höhenmeter), nicht zu verwechseln mit dem noch westlich gelegeneren über 2000 m hohen Col de Madeleine. Die Strecke insgesamt ca. 19 km. Nach Camping im Regen ist uns heute nicht mehr zu Mute. In Lanslebourg übernachten wir im Hotel Les Marmottes. In dem uns zugewiesenen Dreibettzimmer riecht es nach kurzer Zeit von den Ausdünstungen des Tages wie im Pumakäfig. Noch nie habe ich eine warme Dusche so genossen. Während des Abendessens unterhalten wir uns über den zurückliegenden Tag, hart aber unvergesslich. Die französische Bedienung (“Man spricht  deutsch”) plaudert ein wenig über ihre Zeit am Tegernsee. Insgesamt fühlen wir uns langsam wieder wohl. 

 


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